Leseprobe
1. Kapitel
Versprochen, zu lieben
»Verdammt, Albright, was ist hier los?«, hörte ich Jerry fragen.
Seine Stimme klang dumpf, als wäre sie hunderte Meter entfernt und würde durch dicke Watteschichten an meine Ohren dringen.
Jerry erhielt keine Antwort auf seine Frage. Stattdessen ertönte eine Durchsage wiederholt aus den Lautsprechern: »Verlassen Sie Ihre Zimmer. Stellen Sie sich geordnet auf.«
Es herrschte Hektik um mich herum. Meine Zimmergenossen eilten hinaus auf den Flur, um dem Befehl Folge zu leisten. Ich blieb liegen, unfähig mich zu rühren, und ich versuchte es auch nicht. Ich war genau richtig hier. Sie ließen mich kommentarlos zurück.
Die rot blinkenden Warnlichter drangen von dem breiten Flur durch die offene Tür zu mir ins Zimmer. Die Sirene dröhnte. Aber ich blieb ruhig, obwohl ich auf wundersame Weise durch das Getöse hindurch die schweren Stiefel der Hüter über den Boden im Flur eilen hörte.
Ein Geräusch, als brächen hunderte Soldaten zu einem Marsch auf. Absurd. So viele Menschen passten niemals in den Durchgang zwischen den Zimmern. Warum waren sie hier? Was war passiert?
»Fasst mich nicht an, ihr Schweine!«, hörte ich jemanden brüllen. »Ihr alle werdet sehen, was ihr davon habt! Die Regierung wird untergehen!«
Mir fiel auf, dass ich es war, der brüllte und sich gegen die zupackenden Hände der Hüter wehrte. Alles geschah wie in Zeitlupe. Sie rissen mich aus dem Bett auf die Füße. Ein Hüter links, ein anderer rechts von mir. Sie hakten sich unter meine Achseln und schleiften mich davon. Ich sah meinen Körper mehr, als dass ich ihn spürte, wie er die Füße in den Boden stemmte, und sich versuchte, am Türrahmen festzuhalten. In meinem Kopf herrschte eine endgültige Ruhe. Ich wollte nicht abgeführt werden, aber ich verdiente es.
Ich wand mich, um die Arme loszureißen, doch die Hüter gaben nicht nach.
»Ihr alle werdet mit ihnen untergehen! Ihr Marionetten!«, schallte meine Stimme von irgendwoher.
Sie zerrten mich über den gesamten Flur, vorbei an einer nicht enden wollenden Reihe von Soldaten mit für mich unerkennbaren Gesichtern. Am Ende des Flures stand Elijah den Hütern und mir im Weg. Er sah mir in die Augen. Schmerz lag in seinen, sie wollten weinen, fanden aber keine Tränen. Stumm schüttelte er den Kopf. Seine Lippen formten die Frage »Warum?«
Ich versuchte, ihm zu antworten, ihn in den Arm zu nehmen. Die Hüter hielten mich an Ort und Stelle. Kein Wort kam aus meinem Mund, obwohl alles in mir schrie, dass es mir leidtat. Es tat mir so, so leid.
***
Ich schrak aus dem Schlaf, strampelte und schlug um mich. Mit einem Ruck, der mir für einen Moment die Luft aus den Lungen presste, landete ich bäuchlings auf dem Boden. Die Beine in der dünnen Decke verheddert, während das Kissen auf meinem Kopf landete.
»Deniz verdammt, was treibst du da?«, hörte ich Thomas’ Stimme.
Ich lugte unter dem Kissen hervor. Mit seinem Tablet in der Hand lag er auf seinem Bett und sah mich entgeistert an.
»Ach weißt du, ich dachte, es wäre toll, mit voller Wucht aus dem Tiefschlaf heraus mit meinem Gesicht auf dem Boden zu landen.« Ich befreite mich von der Decke, rappelte mich auf und kletterte zurück auf mein Bett.
Mit meinem Ärmel wischte ich mir den Schweiß von der Stirn und den Schläfen. Schweigend starrte ich an die Zimmerdecke, die durch das Kontrolllämpchen in seichtes Rot getaucht wurde.
»Nur nicht an meinen Traum denken«, redete ich mir in Gedanken gut zu. Doch vergebens. Schon blinkten die Alarmleuchten vor meinem geistigen Auge auf und neuer Schweiß trat mir auf die Stirn.
Für mich war es zwar nur das, ein Traum, fühlte sich aber an wie eine tiefe Wunde in meinem Gewissen. Wie musste sich Norman Watts erst gefühlt haben, als er vor einigen Monaten meinen Traum am eigenen Leibe hatte erfahren müssen? Ich sah ihn noch vor mir, wie ich mit den anderen Soldaten auf dem Flur gestanden hatte und ihn die Hüter an uns vorbei in sein sicheres Ende geschleift hatten. Angespannt hatten wir zugesehen, wie sie ihn wegbrachten, um ihn in eines der Camps zu verfrachten. Denn wir waren die Guten.
Die Luft in unserem Zimmer war stickig. Ich schloss meine Augen und atmete tief durch, um mich zu beruhigen.
»Uns könnte das auch passieren«, flüsterte ich zu mir selbst.
Thomas schien mich entweder nicht zu hören oder es nicht zu wollen. Wir waren keine Außenstehenden mehr; wir waren ein Teil des Agrarbunds. Eine Gruppe von Aufständischen. Hochverräter.
Ich streckte mich, um das offene Fach in meinem Spint zu erreichen. Mit den Fingerspitzen grabschte ich nach meinem Com und zog es heran. Erst acht Uhr abends – früher als erwartet.
»Jerry und O’Hickey sind immer noch weg?«, murmelte ich.
»Sieht so aus«, antwortete Thomas, als wäre heute ein Tag wie jeder andere.
Als hätten wir nicht vor ein paar Stunden den Bus in Richtung Rushcot genommen und unser Paket mit den Seiten der geheimen Akte in den Vorstadtruinen für den Agrarbund deponiert. Danach waren wir in Windeseile zurückgekehrt, bevor uns jemand vermisste. Fix und fertig mit der Welt war ich sofort nach Ankunft ins Bett gefallen und eingeschlafen.
»Wissen die Bescheid, dass alles geklappt hat?«, fragte ich Thomas und rieb mir mit den Handrücken über die Augen, als könnte ich so die Müdigkeit verscheuchen.
»Ja, ich habe mit ihnen gesprochen, hab ich dir doch erzählt, oder hast du da schon gepennt?«
»Und es war okay für sie, dass sie nicht mitkonnten?«, hakte ich nach.
Thomas legte sein Tablet auf seinen Schoß und sah zu mir. »Bist du auf den Kopf gefallen? Gehts dir gut? Das ist doch irrelevant. Die schieben immer noch Strafdienst, weil O’Hickey zu blöd ist, seinen Ladedienst unfallfrei durchzuführen. Denen blieb nichts anderes übrig, als zurückzubleiben. Falls du das auch vergessen hast, wir − also du und ich − sind morgen dran.«
»Ja, ja richtig«, antwortete ich und suchte krampfhaft nach einem anderen Gesprächsthema. Mir fiel nichts ein.
Thomas wirkte nicht so, als würde ihn irgendetwas bekümmern. Und ich wollte weder über den Traum noch die Akten nachdenken oder darüber, wie ich meinen besten Freund hinterging und ihn womöglich in Schwierigkeiten brachte. Wenn meine Freiheit dabei draufging, war das meine Sache, doch ihn mit reinzuziehen, stand nie auf der Agenda. Im Gegenteil.
Ich und die Jungs kämpften für das, was wir als richtig ansahen. Davon war ich überzeugt, sonst würde ich dafür nicht mein Leben in Freiheit aufs Spiel setzen. Meine Ansicht war aber nicht das, was Eli als richtig erachtete. Ich hatte nicht das Recht, ihn zu involvieren. Zum ersten Mal brachte ich Eli in Gefahr und es ließ mich nicht los. Es wäre besser gewesen, wenn wir die Akten mit den Aufzeichnungen zum Abtransport auf Lebenszeit vernichtet hätten.
Ich sah hinüber zu Elis Bett. Es war leer. Ein wenig packte mich doch die Neugierde. War er seinem Post-it-Abenteuer noch auf der Spur oder hatte er schon aufgegeben? Hatte er etwas Interessantes gefunden oder traute er sich nicht zurück, damit ich ihn nicht auslachte?
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