Leseprobe



1. Kapitel
Versprochen, zu dienen

»Verdammt, Albright, was ist hier los?«
Ich ignorierte Jerry und folgte den Anweisungen, die wiederholt aus den Lautsprechern donnerten: »Verlassen Sie Ihre Zimmer. Stellen Sie sich geordnet auf. Hände an die Seite.«
Die rot blinkenden Warnlichter verwandelten den breiten Flur in ein bedrohliches Schattenspiel. Die Sirene dröhnte in meinen Ohren. Wir reihten uns in Unterwäsche gekleidet an den Wänden im Flur auf. Meine Kiefer mahlten, während ich an die Wand zwischen den Soldaten mir gegenüber starrte. Die Hüter, die Militärpolizei der Elite, strömten durch den Treppenaufgang in die Flure und durchforsteten die Zimmer wie Bluthunde.
Sonst stürmten wir Häuser und durchsuchten Wohnungen. Wenn die Hüter hier waren, um unsere Baracken zu filzen, konnte das nur eins bedeuten: Aufständische in den eigenen Reihen. Es gab sie überall, auch beim Militär. Aber in meiner Einheit? In meinem Gebäude, unter Umständen einer von meinen Männern?
»Fasst mich nicht an, ihr Schweine!«, brüllte Watts. »Ihr alle werdet sehen, was ihr davon habt! Die Regierung wird untergehen!«
Kurz schloss ich die Augen. Watts. Gerade er, wie konnte das sein?
Sekunden später zerrten vier Hüter in Kampfausrüstung einen strampelnden Soldaten über den Boden. Mich überfiel eine Gänsehaut, obwohl die Temperatur auf den Fluren oberhalb der dreißig Grad lag.
Wir standen aufgereiht wie Statisten in diesem Drama, Blicke geradeaus, als ginge es uns nichts an. Vergeblich versuchte Watts, seine nackten Füße auf den Linoleumboden zu stemmen. Er wand sich, um seine Arme loszureißen, doch die Hüter gaben nicht nach. Flucht war zwecklos. Für ihn gab es keinen Ausweg. Umstellt von staatstreuen Soldaten und zehn Hütern, die gekommen waren, um ihn zu holen.
»Ihr alle werdet mit ihnen untergehen! Ihr Marionetten!«
Unsere angespannten Gesichter spiegelten sich auf den getönten Visieren der Hüter wider. Ohne ein Wort schleiften sie Watts davon.
Eine nervenaufreibende halbe Stunde standen wir starr an den Wänden. Wir warteten ab, bis sie die restlichen Räume auf der Etage durchsuchten.
»Der Quaso der Einheit Net-Trail 77 vortreten!«, rief einer der Hüter am anderen Ende des Flurs.
Ich trat einen Schritt nach vorne und seine schweren Stiefel knallten auf den Boden, als er zu mir kam. Auch als ich schluckte, blieb der Kloß in meinem Hals.
»Identifizieren Sie sich, Soldat!«, befahl er.
Beinahe berührte meine Nase sein Visier, so dicht stand er vor mir. Er roch nach dem Öl im Waffenschmiermittel.
»Leutnant Elijah Albright, Sir!«
Mit seiner behandschuhten Hand zog er mich mit der Kugelkette, an der meine Militärmarken hingen, näher an sich heran. Das Silber schnitt sich in meinen Nacken. Der Hüter hielt den portablen Netzhautscanner vor mein rechtes Auge. Ein schrilles Piepen durchschnitt den andauernden Alarm und bestätigte die Datenübertragung.
»Finden Sie sich in einer Stunde im Vollstreckungsgebäude zur Protokollierung ein!«
»Jawohl, Sir!«
Der Hüter schmiss mir die Marken gegen die nackte Brust und folgte seinen Kollegen hinaus.
Nach einer gefühlten Ewigkeit erstarb das Blinken der Warnleuchten. Erst jetzt rührten wir uns. Die standardmäßige Beleuchtung sprang an, der Alarm verstummte. Das grelle Licht der LED-Leuchten schmerzte in den Augen.
»Verdammte Scheiße!«, stöhnte ich.
Ich stieß die Tür zu unserem Zimmer auf, eilte zu meinem Spint und zog die fein säuberlich bereitgelegte Uniform heraus. Die Nacht endete hiermit für mich. Erst eine Stunde, bevor der Alarm uns aus dem Schlaf riss, hatte ich es ins Bett geschafft. Dienstleister-Pech. Eigentlich nicht tragisch, wenn man nicht in den frühsten Morgenstunden ins Vollstreckungsgebäude beordert wurde.
Von allen möglichen Katastrophen, die mir das Leben erschwerten, fiel die Wahl des Schicksals auf einen Aufständischen unter meinen Leuten. Mir stand am Morgen eine schriftliche Prüfung bevor, die den halben Tag dauern würde. Womit hatte ich das verdient?
Die anderen setzten sich auf ihre Betten und beobachteten mich, während ich mich in meine Uniform schmiss.
»Was starrt ihr denn so? Legt euch hin und schlaft, die Nacht ist kurz!«
Garantiert würde niemand von ihnen wieder einschlafen.
»Schon hart, wie diese Elite-Säcke mit ihm umgegangen sind …«
»Mills!« Ich duldete solche Respektlosigkeiten nicht. »Was erwartet ihr denn, wenn man der Regierung untreu ist?«
»Ich sag ja nur!« Er fuhr sich durch die halblangen blonden Haare, die er im Dienst sonst zu einem Knoten gebunden trug. Murmelnd drehte er sich zur Wand und zog die dünne Decke bis zu den Ohren.
Rekrut Thomas Mills war einer der Soldaten, mit denen ich das Zimmer teilte. Eines Tages würde er sich das Maul verbrennen und als aufständisch eingestuft werden. Das geschah schneller, als Sandechsen rannten.
Ein guter Soldat und treuer Bürger stand hinter seiner Regierung. Ohne Ausnahme!
Deniz stöhnte. »Aber mal ehrlich, das war schon krass. Hätte ich nicht von Watts gedacht, dass er sich gegen die Regierung stellt …«
»Wenn man Leuten ihre Verbrechen ansehen könnte, wäre es ja zu einfach«, sagte ich.
Ich schnürte mir die Stiefel und beneidete meine Kameraden darum, wie sie erschöpft auf ihren Betten lagen. Mein Schädel dröhnte. Meine Augen brannten. Jeder Knochen ächzte. Ich brauchte Schlaf. Aber als ihr Vorgesetzter wurde ich nun mal ins Vollstreckungsgebäude beordert, um auszusagen. Anstatt um mich sorgten sich meine Zimmergenossen um den Werdegang eines Staatsverräters.
»Ja, überleg doch mal«, sagte Deniz und kratze sich am Hinterkopf. »Bei allen Prüfungen schnitt er mit Bestnoten ab.«
»Leute, es reicht!«, maulte ich.
Ich ertrug es nicht, mir ihre Theorien im Nachhinein anzuhören. Nicht mit dem im Hinterkopf, was mir bevorstand.
Es gab keine Anzeichen einer aufständischen Neigung an Watts. Das reichte als Erklärung nicht aus. Wir waren darauf gedrillt, jede Nuance von aufständischem Gedankengutes zu erkennen. Unsere Einheit sorgte für inneren Frieden. Auf Befehl spürten wir Aufständische unter Zivilisten auf und nahmen sie fest. Nur bei Watts hatten wir es nicht gesehen, auch wenn unsere eigenen Reihen eigentlich nicht zu unserem Fokus zählten. Doch die Ausrede war hinfällig.
Watts absolvierte mit uns das Training und den Dienst. Belegte Prüfungen und sammelte Dutzende Sportauszeichnungen. Er war ein Vorzeigesoldat in den einfachen Rängen. Direkt unter meiner Nase, und ich hatte nicht gesehen, dass er ein Aufständischer war.
»Hey, alles okay?«, fragte Deniz an mich gewandt.
»Klar. Nur lästig mitten in der Nacht.«
Beiläufig zuckte ich mit den Schultern, dabei wäre ich am liebsten davongelaufen.

***

»Kannten Sie den Aufständischen?«, fragte der Hüter vor mir.
»Ja, Sir!«
»Waren Sie über dessen Ansichten informiert?«
»Nein, Sir!«
»Unterstützen Sie diese Ansichten in irgendeiner Form?«
»Nein, Sir!«
Sie stellten uns dieselben Fragen, wenn wir Aufständische am Vollstreckungsgebäude ablieferten. Dieses Mal flatterte mir das Herz. Meine Handflächen hinterließen feuchte Abdrücke auf dem Metalltisch. Ich wischte meine Hände an meiner Hose ab und verschränkte die Finger dann auf dem Tisch miteinander.
Was, wenn die Hüter mich ebenfalls abführten?
Sei nicht albern, Albright, beruhigte ich mich in Gedanken. Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen.
Warum behandelten sie mich dann wie einen Häftling? Nachdem ich mich an der Pforte gemeldet hatte, führten mich zwei Hüter wortlos in einen der Verhörräume – ein vier Quadratmeter großer Raum mit hohen Betonwänden. Darin ein im Boden verankerter Metalltisch, an zwei Seiten jeweils ein ebenso befestigter Metallstuhl. Auf einem hatten sie mir befohlen, Platz zu nehmen. Es fehlten die Handschellen, die mit den im Tisch verbolzten Ösen verschlossen wurden, dann wäre das Szenario perfekt.
Ich saß hier wie im Verhör und nicht wie bei einer Befragung. Die Hüter studierten meine Akte, als wäre ich der Aufständische.
»Leutnant Elijah Albright. Illegal gezeugt. X-registriert. Das könnte der Grund sein«, murmelte einer der Hüter, ohne den Blick von dem Tablet zu heben. »Sie haben alle Präventionsausbildungen mit Bravour abgeschlossen, wie konnte eine hochgradig gefährdende Person wie Rekrut Norman Watts unentdeckt bleiben?«, fragte er an mich gewandt.
Ich öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Diese Frage hatte ich erwartet. Ihnen zu sagen, dass es keine Anzeichen gegeben hatte, schien unzureichend. Die beiden Hüter standen vor mir. Elitäre. So erhaben und perfekt. Vor allem einschüchternd.
»Es … es gab keine Anzeichen, Sir. Ich …«
Das Com-Armband des linken Hüters piepte, worauf er und sein Kollege sich einen Blick zuwarfen. Ohne mich ausreden zu lassen, verließen sie den Raum und ich blieb allein zurück. Mit tiefen, zittrigen Atemzügen versuchte ich, mich zu beruhigen.
Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen, betete ich mir vor.
Von draußen erklangen die Stimmen der Hüter und einer mir unbekannten Person.
»Euch war nicht klar, wer er ist?«
»Der General … echt in Schwierigkeiten. Ihr könnt doch … Holt ihn da raus!«
Egal, wie ich mich anstrengte, ich verstand nicht alles, was sie sagten. Im nächsten Moment schrak ich durch das Aufstoßen der schweren Metalltür zusammen.
»Leutnant, auf Ersuchen des Generals Knight ist die Befragung hiermit abgeschlossen«, sagte der Hüter. »Sie können gehen. Das Protokoll wird Ihrem Offizier zur Durchsicht zugestellt.«
Der Hüter verschwand aus meinem Sichtfeld. Erleichtert atmete ich aus. Jede Anspannung wich aus meinem Körper und ich sackte zusammen.
Ich dankte meinem Schicksal für General Jackson Knight.